Bericht Herr Helmut Ernst - Bürgermeister

Keiner denkt mehr an unsere Vorfahren, die ebenfalls schwere Hochwasser zu überstehen hatten.
von Helmut Ernst

In diesen Tagen berichten die Medien und erinnern an die Jahrhundertflut nach 5 Jahren im August 2002.
Einwohner und Verantwortliche berichten wie sie das Geschehen erlebt, gemeistert und überstanden haben.
Eine Besonderheit war, es gab eine große Hilfsbereitschaft, die seines Gleichen sucht. Private Spender, Organisationen, Versicherungen oder der Staat haben finanziell geholfen. Gleichfalls waren Privatleute, Vereine, Feuerwehren usw. vor Ort, um Soforthilfe zu leisten. Auch kann Sachsen-Anhalt verbuchen, keine Unfalltoten zu haben.

Der Heimatverein stellte sein Heimatfest unter das Motto: "5 Jahre nach der Flut uns geht"s widder juht".
Wer denkt da schon an unsere Vorfahren, die bei den wiederkehrenden Hochwassern der Mulde ebenfalls große Schäden hinnehmen mussten und keine Hilfe von außen bekommen haben.

Unsere Vorfahren haben sich an der Mulde angesiedelt, weil diese fischreich und das Land fruchtbar war. Man lebte eben mit dem Hochwasser.
Ein schweres Hochwasser, ebenfalls im August, war 1858. Damals stürzten 5 Häuser ein und 7 mussten abgerissen werden. Diesen Menschen wurde keinesfalls geholfen. Im Bericht heißt es, dass die "Construktion" umpassend war. Wie 2002 war der hochgelegene Markt nicht überschwemmt, nur die übrigen Teile der Stadt besonders der Anger. Aufgezählt werden im Bericht nur die Schäden an den kommunalen Anlagen. Welchen Verlust unsere Einwohner an Inventar oder Möbeln hinnehmen mussten, wird nicht erwähnt.
Bei diesem Hochwasser kam ein 46-jähriger Bürger ums Leben. Auf dem Weg zur Arbeit hatte er einen Epilepsie-Anfall erlitten und ertrank dabei.

Der Bürgermeister Gast wendet sich 1863 mit einem Gesuch an die Herzogliche Anhaltische Regierung und schreibt, dass bei Hochwasser und Eisgang der Mulde unsere Industrie lahm gelegt wird, unsere Häuser bis zum Einsturz ruiniert und die Felder und Feldfrüchte zerstört werden. Zur Abwendung der großen Gefahr gibt es keinen anderen Ausweg als die Eindeichung mit Wällen. Er weist darauf hin, dass die Vermögensverhältnisse der Stadt, eine Eigenlösung nicht zulassen.
Auch der Jeßnitzer Landtagsabgeordnete Isidor Herz beantragt im 10. Anh. Landtag 1872/73 Vorarbeiten zu leisten und festzustellen, durch Regulierung oder durch Eindämmung der Mulde den wiederkehrenden Hochwassern wirksame Abhilfe geschaffen werden kann.
Auch wird darauf aufmerksam gemacht, dass seit Erbauung der Eisenbahnstrecke Wittenberg-Bitterfeld sich die Überschwemmungen vermehrt haben.
Verschiedene Untersuchungen wurden in den folgenden Jahren durchgeführt.
Man wollte sogar einen Durchstich an den neuen Gärten vornehmen. Dies wurde auf Grund verschiedener Nachteile wieder fallen gelassen.
Bis es jedoch zur Eindeichung der Stadt im Jahre 1911 gekommen ist, verging noch eine lange Zeit.
Die Fotografien des August-Hochwassers 1897 oder des Winter-Hochwassers 1909 mit den Eisschollen in den Straßen sind sicher vielen bekannt.

Endlich, im Jahre 1911 ist es soweit, dass die Altstadt von Jeßnitz einen Deich erhält. Doch vorher wendet sich das Gewerkschaftskartell an den wohllöblichen Magistrat der Stadt Jeßnitz mit Forderungen wie "bei der Einstellung von Arbeitskräften sind in erster Linie einheimische Arbeiter zu berücksichtigen. Nur wenn solche nicht vorhanden sind, können Ausländer eingestellt werden." Gemeint sind Arbeitskräfte außerhalb Anhalts.
Die regelmäßige Arbeitszeit sind 10 Stunden am Tage mit 38 Pfennig pro Stunde.
Akkordarbeit ist auszuschließen.
1932 wird der Deich um das Hallesche Tor durch den Arbeitsdienst errichtet.
Interessant ist ein Bittschreiben an die Landesregierung eines Bürgers aus der Nordstraße im Jahre 1937.
"Ich habe 4 Kinder und war mehrere Jahre arbeitslos, besitze Feld und die Ernte ist öfters ersoffen, aber nicht so stark wie in diesem Jahr. Bisher konnte ich die Frucht noch verfüttern. Durch die Verschlammung sind Kartoffeln und Wiesen nicht mehr brauchbar."
Die Antwort lautet: "Ablehnung! so ist es zu lesen glaubt Herr R. , dass der Staat dafür aufzukommen hat, wenn im Überflutungsgebiet der Flüsse Schäden auftreten?"

Weitere Hochwasser 1954 oder1974 haben viele noch selbst miterlebt, wobei sich die Schäden in Grenzen hielten.
Nach dem Jahrhunderthochwasser sind schon etliche Millionen in das Deichprogramm der Stadt investiert worden. Noch sind nicht alle Deiche rekonstruiert. Besonders im westlichen Teil unserer Stadt erwarten unsere Menschen eine baldige Lösung.
Hoffen wir, dass solche Naturkatastrophen nicht wieder kommen.

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